Vom 15. Februar bis 21. Mai 2018 findet die Fotoausstellung „GUTE AUSSICHTEN – JUNGE DEUTSCHE FOTOGRAFIE 2017/2018“ im Haus der Photografie in den Deichtorhallen statt.
Das letzte Mal, dass ich den Deichtorhallen in Hamburg einen Besuch abstattete, war die Ausstellung „AUGEN AUF! – 100 JAHRE LEICA FOTOGRAFIE in Hamburg“ am 15.01.2015. Also wirklich Zeit, mal wieder vorbeizuschauen und zu gucken, was denn die „junge deutsche Fotografie“ 2017/2018 und deren Fotografen ausmacht, dass die in den Deichtorhallen ausstellen (dürfen).
Mein kritisches Fazit vorweg
Unterm Strich ist „GUTE AUSSICHTEN – JUNGE DEUTSCHE FOTOGRAFIE 2017/2018“ eine tolle Ausstellung und auf jeden Fall einen Besuch wert. Nähe zur (Fotografie-) Kunst wird hier allerdings nicht geschaffen – zumindest nicht für einen gelegentlichen „Kulturkonsumenten“ wie mich.
Ohne nähere Erläuterungen und Hintergrundinfos zu den Fotografen und deren Motivation für die ausgestellten Werke hätten sich mir sehr viele Fotografien nicht erschlossen. Ich hatte Glück, dass ich mich direkt nach meinem Eintreffen einer kleinen, wirklich klasse und sehr kompententen Führung anschließen konnte, die mich einigen der Bilder (leider nicht allen) und ihrer Entstehung näher brachte. Ein Zugang ohne nähere Auseinandersetzung mit den Künstlern oder Expertise im Vorfeld ist für mich nicht möglich. Das Museumskonzept erscheint mir wie eine allzu klischeehaft elitär abgrenzende Darstellung von Kunst. Und ist damit meiner Meinung nach für Leute, die einfach mal so aus Interesse die Deichtorhallen besuchen, erwartungsgemäß einschüchternd, wenn nicht sogar abschreckend in ihrer Wirkung.
Ich finde es geradezu arrogant, Leute wie mich mit spärlichen Schildern abzuspeisen, deren Informationsgehalt oft gleich Null ist und deren Beschreibungen mit ihren überkandidelten Formulierungen genauso abstrakt daher kommen, wie die Kunstwerke selbst. Dem interessierten Laien die Fotografie bzw. Kunst näher zu bringen, ist hier meiner Meinung nach nicht gut gelungen (bis auf die kleine, wirklich sehr gute Führung). Aber vielleicht ist das ja auch gar nicht Ziel der Ausstellung. Die Heranführung an ein Thema geht anders, was zum Glück zahlreiche andere Museen innovativ und erfolgreich unter Beweis stellen.
Warum sich mein Besuch trotzdem gelohnt hat?
Was ich horizonterweiternd mitnehme
Bisher war Fotografie für mich maßgeblich das Einfangen von Augenblicken, die Abbildung, das Einfrieren eines bestimmten Moments an sich. Interpretationen haben sich für mich aus dem Foto selbst als Abbildung einer echten, nachvollziehbaren Wirklichkeit und der Reflexion mit meiner Realität ergeben. Die Absicht oder Botschaft sollte sich mir aus dem Abgebildeten erschließen, ohne nähere Erläuterungen zu Hintergrund oder Kenntnis der Intention des Fotografen. Das geschossene Foto erzählt die Geschichte.
Viele Künstler der „GUTEN AUSSICHTEN“ bedienen sich der Fotografie als Werkzeug oder Instrument, um damit in einem weiteren „Verarbeitungsprozess“ Werke zu schaffen. Bilder werden inszeniert oder verfremdet und zum Teil in noch weiter verfremdete Collagen eingebracht. In meinen Augen ist das zwar Kunst, aber keine Fotografie nach meiner bisherigen Definition. Tja, nach bisheriger Definition. Meine Abgrenzung verschiebt sich gerade bzw. hat sich verschoben.
Nicolai Rapp
Beispiel: Nicolai Rapp und seine Installation aus der Serie CHICKS RAGS HOPES (2014-2016): Da hängen Portraits von Afrikanern an der Wand, deren Gesicht mit einer Art Schleier verfremdet wurden. Hat Nicolai Rapp die Bilder im Nachhinein übermalt, mit Kleister getüncht und was soll das?
Hintergrund:
Eine neue Serie von Portraits thematisiert ein Schönheitsideal vieler Afrikaner, das diese zu Bleichcrèmes für die Gesichtshaut greifen lässt. Die gesundheitsgefährdende Wirkung ist entweder nicht bekannt oder wird ignoriert. Nicolai Rapp experimentiert mit der Wirkung dieser Bleichmittel auf den geprinteten Oberflächen der Fotoarbeiten, die dort chemische Reaktionen verursachen, malerische Spuren der Zersetzung hinterlassen und ebenfalls gesellschaftskritische Ansätze transportieren.
Quelle: www.ostfildern.de
In Europa sind die Bleichmittel aus gutem Grund verboten:
Tretinoin ist eine Vitamin-A-Säure. Sie beschleunigt das Absterben der oberen Hautschicht. Der Körper stößt die melaninhaltigen Zellen ab. Die Hornhautschicht wird dünner. So kann der zweite Wirkstoff, das Hydrochinon, leichter in die Zellen eindringen – und dort verhindern, dass neues Melanin gebildet wird. Hydrochinon ist ein chemischer Stoff, der auch bei der Entwicklung von Fotos benutzt wird. In Deutschland ist diese Chemikalie in Kosmetika verboten. Erlaubt ist sie lediglich in Haarfärbemittel in der Konzentration von maximal 0,3 Prozent. Die Cremes, die im Senegal verkauft werden, können mehr als das Hundertfache des Wirkstoffs enthalten: Ein Anteil von fünf bis 20 Prozent ist üblich.
Quelle: www.faz.net
Und woher kommt das Bleichmittel?
In Afrika, Asien, Amerika und dem Nahen Osten ist der Verkauf von Bleichcremes schon lange ein Riesengeschäft. Mehr als eine Milliarde US-Dollar setzen Hersteller wie Unilever, L’Oreal oder Avon jährlich damit um.
Quelle: www.dw.com
40 Prozent der Patienten, die in Südafrika einen Dermatologen aufsuchen, benutzen aufhellende Cremes.
Quelle: rtlnext.rtl.de
Nicolai Rapp hat nun genau dieses Bleichmittel auf Pigment-Print-Fotos seiner Afrikaner-Portraits aufgebracht und damit eine Ver- bzw. Entffremdung der gezeigten Menschen erzielt. Es geht um die lebensbedrohliche Schädigung und die Zerstörung der Haut (u.a. Krebsgefahr, Verbrennungen, Entzündungen). Letzlich wird aber auch ein Teil Identität der gezeigten Menschen zugunsten von Schönheitsidealen und gesellschaftlicher Anerkennung aufgegeben. Berührend traurig und genial zugleich. Sofern man die Hintergründe zu Künstler und Motivation kennt.
Weitere Bilder gibt es hier: www.ostfildern.de
Claudia Christoffel
Aufgrund der sehr plastisch wirkenden Darstellungen sofort ins Auge gefallen ist mir die Installation von Claudia Christoffels Serie FUN-GHB-EAT. In mehreren weiß umrandeten Bilderrahmen, alle in gleicher Größe, auf einer Höhe aneinander gereiht, zeigt sie alltägliche Gegenstände, die jeder kennt, wie z.B. einen Pfannenwänder, eine Krawatte, eine Kerze, eine Orange oder eine elektrische Zahnbürste. Ja, und warum das Ganze?
Was mit ganz alltäglichen Gegenständen wie einer Krawatte, einer Orange oder einem Schwimmflügel geschehen kann, wenn sie, ihrer ursprünglichen Funktion enthoben, in anderen Kontexten benutzt werden, demonstriert Claudia Christoffel in ihrer Serie »FUN-GHB-EAT«: Wozu kann ein Schwimmflügel beim Sex dienen (FUN)? Kann eine Krawatte bei einer Vergewaltigung missbraucht werden (GHB)? Ist eine Karotte einfach nur ein Gemüse (EAT)?
Quelle: bild-akademie.de
Christoffel zeigt in FUN Objekte, die, gemäß ihrer Recherchen, der sexuellen (Selbst-)Befriedigung dienen. Die Reihe GHB bezieht sich auf die chemische Formel der sogenannten K.O.-Tropfen, die oftmals Opfern von Vergewaltigungen verabreicht werden und deren Erinnerung an das Ereignis auslöschen. Im dritten Teil der Serie EAT rücken die Gegenstände weder zurück in ihren alltäglichen Gebrauchskontext.
Quelle: Ausstellungsschild
An der Wand unter der Fotoreihe mit den Schwimmflügeln ist dann weiter zu lesen:
Als sich Joe in „Nymph()Maniac“ selbst Abstinenz von der Selbstbefriedigung auferlegt, schafft sie alle Gegenstände beiseite, die sie für ihre Lust benutzen könnte. Am Ende liegt sie in einem bis auf wenige Möbel leeren Raum.
Quelle: Schild Museum
Während ich mir das anschaue, museumstypisch dezentes Gemurmel und museumsuntypisches Gekichere um mich herum. Kopfkino banal in Fahrt gebracht, super klasse.
Fotografen-Empfehlungen
Zusammenfassend Fotografen, die mich in der Ausstellung besonders beeindruckt haben:
- Nicolai Rapp aus der Serie CHICKS RAGS HOPES (2014-2016)
- Georg Brückmann, aus der Serie Kundmanngasse 19 (2015)
- Julian Slagman, Vergissmeinnicht, 2017
- Claudia Christoffel, FUN, GHB, EAT, 2016
- Helena Schätzle, Mahila, 2007-2017
- Alwin Lay, ZIP TIE (s) (2017)
- Sonja Kälberer, Bel composto, (seit 2004 fortlaufend)
(Und ich verstehe nicht, wie die meisten Fotografen gar keine oder so scheiße Websites haben können, die zum Teil noch nicht mal repsponsive sind …)
Der Eintritt für Erwachsene beträgt 10,00 €, ein Preis, der für mich im Nachhinein völlig ok und es wert ist. Trotz meiner Kritik: Ein absolut lohnenswerter Besuch!
Weitere Infos
Ausstellungsfotos: By myself mit iPhone 6s.